An exponierter Stelle, auf einem Vorsprung des Molkenbergs, steht die älteste Kirche der Kurstadt an der Orb. Dass sie nicht - wie für ein mittelalterliches Stadtbild üblich - inmitten der Stadt errichtet wurde, ist durch ihre Nähe zur alten Burgbefestigung zu erklären.
Denn schon als das "Kastellum" im Jahre 1064 in den Besitz von Erzbischof Siegfried I. von Mainz überging, stand bereits ein Gotteshaus an dieser Stelle, eine romanische Burgkapelle. Der Bau des größeren Gotteshauses ist in das 14. Jh. zu datieren, eine Zeit, in der die Salzgewinnung die Bevölkerungszahl anwachsen ließ. Dadurch, dass alte Bausubstanz in den Bau einer dreischiffigen Kirche integriert wurde, lässt sich die generelle Asymmetrie der Martinskirche erklären. So war der heutige Kirchturm Bestandteil der Wehranlagen.
Gerade im vergangenen Jahrhundert blickt die Martinskirche auf eine Geschichte voller (geplanter und unbeabsichtigter) Umgestaltungen zurück. In den 1930ern wurden die gotischen Züge der Kirche durch die Entfernung des barocken Hochaltars wieder hervorgehoben. An seine Stelle trat das Orber Altarbild, ein Werk des Meisters der Darmstädter Passion von kunstgeschichtlicher Relevanz aus dem 15. Jh. Im gleichen Zeitraum wurde die Kirche auch durch den Anbau einer zweigeschossigen Sakristei erweitert.
Doch das Orber Altarbild sollte nicht lange im Chorraum verweilen. Während der Umbaumaßnahmen 1978/79 besann man sich auf den barocken Glanz vergangener Tage. Der Hochaltar, wie er Ende des 17. Jh. unter den Schönborns in der Martinskirche aufgestellt wurde, erhielt seinen angestammten Platz zurück. Gleichzeitig wurden zu beiden Seiten der Kirche Seitenschiffe angefügt. An der Nordseite war genug Raum für ein Seitenschiff, das das alte Altarbild aufnehmen konnte, wohingegen südlich der Kirche die lokalen Gegebenheiten nur den Anbau eines sich nach vorne hin verjüngenden Schiffes zur Gewinnung von Sitzplätzen erlaubte.
Die bis heute letzte Renovierung war genauso unbeabsichtigt wie umfangreich. Sie wurde nötig durch den Kirchbrand an Weihnachten 1983, der sämtliche Kunstschätze der Pfarrkirche dahinraffte.
Beim Betreten fällt dem Besucher der nach dem Kirchbrand völlig neu gestaltete Hochaltar ins Auge.
Kernstück des Altars ist die Kreuzigung Christi. Der Korpus ist ein altes Werk, das bereits früher in der Martinskirche hing, den Brand aber überstand, weil es vorübergehend nach St. Michael ausgelagert worden war. Platziert ist der Korpus jedoch nicht an einem schlichten Balkenkreuz, sondern an einem aufblühenden Lebensbaum, der hinter dem offenen leeren Grab hervorwächst. Über dem Grab ruhen die Gebeine der Toten, zwischen ihnen wird eine Reliquie des Kreuzes aufbewahrt. Zwischen Kreuzesstamm und Grab ist ein spätgotisches Flügelaltarrelief aus der Werkstatt des Meisters Valentin Lendenstreich eingefügt, das in seinem Mittelstück die Apostel Petrus, Andreas und Bartholomäus zeigt.
Vom Eingang aus gut zu sehen ist über diesem allem der Triumphbogen. In ihm steht der apokalyptische Christus auf einem Sarg, eingerahmt von Symbolen der vier Evangelisten.
Mit dem leeren Grab, dem hervorwachsenden Lebensbaum und dem darüber stehenden wiederkehrenden Christus, wird bildhaft ein zentraler Bestandteil des christlichen Glaubens dargestellt; Tod des Herrn, seine Auferstehung und schließlich seine Wiederkehr. Oder wie im Gebet nach der Wandlung:
Deinen Tod O Herr verkünden wir, und Deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit!
© St. Martin, Bad Orb